Altes Rathaus, 17.05.2014. Kunst in ihrem besten Ausdruck vermag entweder so zu provozieren, dass an Festen gerüttelt, Tradition infrage gestellt und mit Konventionen gebrochen wird. Oder sie legt einen Zauber über die Welt, sodass diese plötzlich eine bessere zu sein scheint- und der darob entzückte Beobachter fühlt sich sofort mit zum besseren Menschen berufen. Um es gleich vorweg zu sagen: Dies ist gänzlich ironiefrei zu verstehen. Künstler, die beides vermögen, sind selten. Sie öffnen Horizonte und berühren. Sie beherrschen ihr Handwerk so sehr, dass sie es sich leisten können, Dinge zu tun, für die andere in der Luft zerrissen würden.

 

Marialy Pacheco trägt Pumps mit drei Zentimeter Plateausohle und zehn Zentimeter Bleistiftabsätzen, als sie sich im altehrwürdigen Rathaus in Schöppingen an den Flügel setzt. Und auf dem Cover ihrer neuen CD, „Introducing“, sieht man sie – wenn auch von hinten – mit bloßem Oberkörper am Klavier sitzen, in einem Boudoir-Setting mit reichlich schwarzer Spitze. Dass sich die Kubanerin Posen und Pumps rein äußerlich leisten kann, ist eine Sache. Dass sie es im Grunde nicht nötig hat, durch provozierende Stilbrüche auf sich aufmerksam zu machen, eine andere. Pacheco hat klassisches Klavier und Komposition studiert und 2012 als erste Frau die Solo Piano Competition beim Montreux Jazz Festival für sich entschieden. Sie ist mit 31 eine weit gereiste und gereifte Pianistin und Komponistin, die afro-kubanische Elemente, Jazz und Klassik mixt, „wie in einer Suppe“, wie sie selbst sagt. „Einer Suppe mit vielen Zutaten.“

Die serviert sie mit einer strahlenden Natürlichkeit, dass es einem die Sprache verschlägt. Pacheco spielt ohne Programm, entscheidet aus dem Moment heraus, wonach ihr gerade ist. „Ich will die Herzen der Menschen erreichen“, sagt sie. Dass am Ende doch eine Art roter Faden dabei herauskommt, merkt man an der Anzahl der Stücke von der neuen CD: Das verspielte „Ay! Mama Inés“ etwa, das auf einem kubanischen Schlaflied aufbaut. „Mit meiner Version ist es ein bisschen schwierig zu schlafen“, gesteht sie lachend.

Das tut sie übrigens viel, auch während sie spielt. „Ich musste daran denken, was die beiden machen, wenn wir das spielen“, entschuldigt sie sich dann. Gemeint sind ihre beiden kolumbianischen Mitspieler, denn die CD entstand im Trio mit Juan Camillo Villa (Bass) und Miguel Altamar (Drums). Überhaupt erfährt das Publikum sehr viel am Rande – von ihren Mitmusikern (unter anderem Sting-Percussionist Rhani Krija) von Reisen mit ihrem deutschen Mann, den sie persönlich vorstellt, von ihrer Jugend am Klavier. Einer der Höhepunkte des Konzerts wird dann auch eine Homage an ihren Kompositionslehrer: „Guajira para Tulio“. Komposition sei Inspiration, „aber was es noch mehr gibt, ist harte Arbeit – und Leidenschaft gehört dazu“. Er sei sehr hart mit ihr gewesen, wofür sie heute dankbar sei. Dass Pacheco mit diesem Stück im Dreiviertel-Rhythmus 2005 in den USA einen Kompositionspreis gewann, versteht jeder, der die Augen schließt, während sie spielt. Plötzlich taucht ein Bild aus einem Video auf –Dali beim Malen. Einer der größten Künstler der Neuzeit, der mit wenigen, weichen Pinselstrichen, die zunächst an Kinderzeichnungen erinnern, ein Landschaftsgemälde entstehen lässt. Legatobögen werden zu Hügeln, Stakkati zu Farbtupfern. Ähnlich ergeht es dem Publikum mit „Cambodian Smiles“, einer Homage an die kindlichen Straßenhändler, die sie auf ihrer Reise in Kambodscha sah. Das Stück ist das letzte auf der CD. Pacheco: „Danach kann eigentlich nichts mehr kommen.“

(Quelle: Westfälische Nachrichten, 19.05.2014, Christiane Nitsche)